Segel-Urknall

Juli 1998

Die_Insel

"Hey Bernadette, wann willst du denn deine erste Segelstunde nehmen?", fragte Andrea an dem Tag, als mein Mann Paul und unser Freund Arvid ihren Urlaubs-Segelkurs in der bezaubernden Bucht Agios Georgios auf Korfu erfolgreich abgeschlossen hatten. "Andrea", lachte ich herzhaft, "wie oft soll ich es dir noch sagen, dass ich keineswegs vorhabe, Segeln zu lernen!" – "Aber wieso denn nicht?", beharrte die Segellehrerin, "die beiden Jungs haben es an drei Nachmittagen gelernt, das kannst du auch! Die ganze Theorie hast du doch schon intus, du wirfst ja seit Tagen mit den Seemannsbrocken nur so um dich!" Ich sah Andrea verblüfft an und musste feststellen, dass sie Recht hatte. Ich weiß auch nicht, wie das gekommen war. Es gab da zwei Theorieblätter, schlecht kopiert und doppelseitig bedruckt, die allen Segelschülern am Anfang in die Finger gedrückt wurden. Diese beiden Blätter – also vier Seiten geballte Segeltheorie – waren auch mir in die Hände gefallen und ich hatte ihren Inhalt aufgesogen, während Paul und Arvid in der Bucht ihre Manöver übten. Ich denke heute, dass es ein didaktisches Meisterwerk gewesen sein muss, denn auf diesen vier ominösen Seiten war kurz und knapp alles aufgeführt, was ein (Urlaubs-Buchten)-Segler am Anfang wissen sollte, und zwar in einer Weise, die durch die Augen und den Geist auf kürzestem Weg mein Herz erobert hatte.

Segelstunde_1
Erste Segelstunde Arvid und Paul
Segelstunde_2
Wir ziehen die Jolle ins Wasser

Aber dessen war ich mir an jenem Abend nicht bewusst, als wir mit Andrea und Wolfgang, den Segellehrern, ein Bier tranken. "Andrea, du musst es einsehen", sagte ich geduldig, "Segeln ist nichts für mich. Ich bin erstens kein sportlicher Typ, zweitens verwechsle ich immer Rechts mit Links und außerdem habe ich Angst vor Geschwindigkeit. Andrea gab nicht auf: "Aber wenn du doch partout nicht segeln willst, warum machst du dann immer mit, wenn die Segler ihre Boote fertigmachen? Du trägst Segelsäcke und Ruderanlagen und fasst mit an, wenn sie ihre Jollen vom Strand ins Wasser ziehen. Warum machst du das, wenn du doch mit dem Segeln nichts am Hut haben willst?" Darauf wusste ich nichts zu sagen und nahm stattdessen einen herzhaften Schluck aus meinem eisgekühlten Bierkrug ...

Segelstunde_3
Die Jolle schaukelt an der Boje

Ein paar Tage später geschah es. Es war nicht mein eigener Wunsch gewesen und eigentlich hatte ich es nur Paul zuliebe getan. Aber ich hatte mich nun einmal darauf eingelassen und jetzt konnte ich nicht mehr zurück. Wiederum hatte ich mit den anderen Segelsäcke und Ruderanlagen getragen und Jollen vom Strand ins Wasser gezogen. Aber diesmal war ich selbst der Schüler und Wolfgang mein Lehrer und Paul war mit an Bord. Was hatte ich bloß getan ...!?

Ich saß ein bisschen zittrig auf der Jolle, die an der Boje schaukelte, und hielt mich krampfhaft an der Want fest, nachdem ich vorhin beim Heißen der Segel beinahe rücklings von der Bordwand ins Wasser geplumpst wäre. Was hätte das für einen Lacher gegeben! Gott-sei-Dank hatte ich die Want im letzten Augenblick noch erwischt. So ging bei dieser Aktion nur mein Haarreif über Bord.

"Bernadette, geh an die Pinne!", sagte Wolfgang jetzt.

O Gott, dachte ich erschreckt und rief: "Ahhh – wieso ich ...!? Ich weiß doch gar nicht, was ich – ähm – wie geht das – ähm – wohin soll ich denn – ich dachte, du zeigst mir das zuerst einmal ..." – "Komm schon, du brauchst keine Angst zu haben!", sagte Wolfgang väterlich, kam zu mir herüber und drückte mir die Pinne in die Hand. "Ich sag dir schon, was du machen sollst. Als erstes brauchst du ein Gefühl für die Steuerung. Siehst du die Bergspitze da hinten über dem Fischrestaurant? Die musst du anhalten, das ist alles! – Du kannst das", sagte er, als er meinen Seufzer hörte, und hieb mir aufmunternd auf die Schulter, "guck mal, Paul macht den Vorschoter, er weiß ja schon, wie's geht, und die Großschot führe ich selbst, es kann echt nix passieren." – Wenn das mal gut geht, dachte ich und versuchte, mit der Ruderpinne in der Faust so cool wie möglich auszusehen. Paul ergriff jetzt die Bojenleine, um sie auf Wolfgangs Kommando loszuwerfen, während sich Wolfgang ohne die Großschot loszulassen ebenfalls zum Vorschiff hangelte, um – ah, was machte er denn jetzt? Irgendwie zog und zerrte er an der Fock herum, bis unsere Jolle anfing sich zu drehen, in den Wellen zu bocken und an der Bojenleine zu reißen. Davon hatte ich damals noch keine Ahnung und begriff deshalb auch nicht, was Wolfgang machte: es war nichts anderes, als dass er die Fock back hielt, damit die Jolle ein wenig vom Wind abfiel und wir Druck auf die Segel bekamen. In diesem Moment rief Wolfgang: "Leine los!" und Paul ließ die Bojenleine fahren.

Segelstunde_4
Das Boot nimmt Fahrt auf

Das war jener Augenblick, den ich im Leben niemals vergessen werde. Das Boot nahm Fahrt auf. Der Wind rauschte in den Segeln und wir hörten das Wasser gurgeln. Ich fühlte den Druck auf der Pinne und erfuhr zu meiner Freude, dass die Jolle meiner Ruderführung gehorchte. Mein Haar flatterte unbereift und frei im Wind und mir ging das Herz auf. Wo war die Angst geblieben? Sie war weg und es war mir, als sei sie hinter mir über Bord gegangen und in den Meerestiefen versunken. Was für eine Herrlichkeit! "Wow", rief Wolfgang begeistert, "das geht ja voll ab!", und ich sah Pauls Augen aufleuchten. Was konnte schöner sein? Mein Herz rief mir jauchzend zu: "Sieh her, das ist der Himmel auf Erden!"

Dieser Tag veränderte mein Leben. Wie eine Landratte war ich anfangs auf diese Jolle geklettert und nun fühlte ich mich wie ein Seebär. Später nannte ich diese Erfahrung gern: "Die Große Überraschung in meiner Lebensmitte". Das Land und die See – sie erschienen mir nun wie zwei völlig verschiedene Welten. All das, was mich zu Lande einschränkte und hinderte, blieb am Ufer zurück und konnte mir nicht folgen, sowie ich ein Schiff bestieg. Und diese Freude im Herzen!

Ich nahm in den folgenden Tagen zwei weitere Stunden und schloss den Kurs wie Paul und Arvid erfolgreich ab. Und als wir abends wieder mit unseren Segellehrern zusammen saßen, triumphierte Andrea: "Ich wusste es von Anfang an, aber du wolltest es nicht glauben!" Darauf sagte ich lachend: "Du hast Recht – ich bin ein SEEBÄR".

Jetzt hatten Paul und ich ein gemeinsames Hobby, was kann es Schöneres geben! Und es blieb nicht beim Jollensegeln. Wir "hangelten" uns durch die Führerscheine bis zum SKS und so erkunden wir nun gemeinsam die Meere. Bis heute lässt uns die Begeisterung für die See nicht los und wir gehen mit unseren Freunden auf Segeltörn, so oft wir können.

Und was es da für Seemannsgarn zu spinnen gibt ...

Nachtrag - Juli 2008

Lady_Tramp

Fast ganz genau zehn Jahre nach dem Segel-Urknall kamen wir mit unseren Freunden wieder her, aber diesmal auf einer Segelyacht. Und wir ankerten zwei Nächte lang in der bezaubernden Bucht Agios Georgios auf Korfu, die die Anfänge unserer Segelei gesehen hat.


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Stand: Samstag, 20. Mai 2017