Textprobe aus Rolf Piotrowski: Largo
	Ich bleibe kurz stehen, um mir die Kopfhörer meines MP3-Players auf die Ohren zu setzen. In Würdigung meiner schwermütigen Stimmung wähle ich Dvořáks 9. Sinfonie als Wegbegleiter.
		
	Sinfonie Nr. 9 e-Moll op. 95 "Aus der neuen Welt" ...
		
	Es ist einer der Tage, an denen ich mich verkriechen möchte, nicht zur Kenntnis genommen und nicht angesprochen werden möchte und erst recht nicht antworten mag. Einer der Tage, an denen ich eigentlich gar nicht leben will. Gäbe es den temporären Tod, ich hätte ihn schon einige Male um seine Dienste ersucht, um mich diesen schmerzhaften Fiktionen in meinem Kopf nicht stellen zu müssen. Ich will erschöpft einschlafen, erfrischt und gestärkt wieder aufwachen und von diesen inneren ambivalenten Dialogen erlöst sein. Ich will diese verwirrenden, ängstigenden Assoziationen und Schlussfolgerungen hinter mir lassen. ...
		
	Ich tauche ein in dunkle Melancholie, wickle mich in dicke schwarze Tücher, versuche mich unsichtbar und unverletzlich zu machen. ...
		
	In wenigen Sekunden wird der zweite Satz der Sinfonie beginnen. Das Largo! Ich weiß, es wird mir den Rest geben. In Gedanken rufe ich mit letzter Kraft dem Orchester zu: "Na, kommt schon! Gebt's mir!"
		
	Ich freue mich geradezu auf das besinnliche Largo und fürchte mich gleichermaßen davor. In dieser ambivalenten Stimmung drehe ich die Musik lauter. Es ist für mich das bewegendste Musikstück, das ich je gehört habe. Es ist meine Musik für Tage wie diese. Ich richte meine ganze Aufmerksamkeit auf die ersten Takte der Musik und lasse mich fallen. Ich kann nur darauf vertrauen, dass ich mich auch diesmal rechtzeitig auffangen kann.
		
	Aber wenn nicht? ...
		
	Diese Tage sind bedrückend, lähmend, anstrengend und deprimierend. In mir findet ein Kampf statt. Bisher war stets die Hoffnung der Sieger, aber vielleicht wird sie heute unterliegen. Nach hunderten dieser Kämpfe könnte die Hoffnung in mir geschwächt sein oder sich auf Dauer geschlagen geben und einfach kapitulieren.
		
	Und um keinen Preis möchte ich Tage wie diese missen.
		
	Ich habe die Haltestelle erreicht. Der Bus kommt an und öffnet die Türen.
		
	Ich steige nicht ein.
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