Das Geschenk des Mittellosen – Janniks Geschichte
	Gegen Mittag ... fuhr ich mit dem Rad zum Lebensmitteleinkauf. Bis dahin lag ich trotz der Wettereskapaden gut in meinem Zeitplan. Auch der Einkauf verlief reibungslos und zu meiner Zufriedenheit. Erst als ich mit dem Einkaufswagen zum Fahrrad zurückkehrte, fingen meine Probleme an. Denn nachdem ich alle Lebensmittel in den Tragetaschen verstaut hatte, stellte ich fest, dass ich meine Transportkapazität als Radfahrer deutlich überschätzt hatte. Je ein prall gefüllter Beutel mit bedenklich lang gezogenen Griffen rechts und links an der Lenkstange, eine große Tüte im Korb auf dem Gepäckständer. Für den Kartoffelsack blieb kein Platz mehr. Ein wenig hilflos nestelte ich mit den Kartoffeln herum, versuchte sie zuerst zusammen mit der der Tüte im Korb unterzubringen. Als das nicht gelang, wollte ich sie auf der Lenkstange balancieren. Wenn das Säckchen doch nur einen Tragegriff gehabt hätte...
		
	"Miriam, was machst du denn da…?" Ich drehte mich um und sah in Janniks grinsendes Gesicht. Groß, stämmig, immer freundlich, redselig und hilfsbereit, so hatte ich ihn als fiftyfifty-Verkäufer vor dem Supermarkt kennen gelernt. "So geht das doch nicht", sagte er mit einem kopfschüttelnden Lächeln, das unnötigerweise mit einer Spur Schadenfreude gewürzt war. Während wir uns zum Gruß die Hände schüttelten, fiel auch noch hinter mir mit einem Scheppern das hoffnungslos überladene Fahrrad zu Boden, der Kartoffelsack thronte oben auf. "Miriam, ich hätte da vielleicht was für dich", sagte Jannik mit einem geheimnisvollen Ausdruck im Gesicht, "warte mal kurz, ich bin gleich wieder da."
		
	Er drehte sich um und tauchte in einer kleinen verwilderten Gebüschinsel unter. Die dürren Zweige raschelten leise, als Jannik seine stattliche Gestalt durch das Dickicht schob. Endlich erschien er wieder mit zerzaustem Haar und – mit einem kleinen Schatz in seinen Händen. Es war ein alter, verbogener und halb verrosteter Fahrradkorb mit Halterungen für die Lenkstange. Jannik konnte den Stolz in seinem Gesicht kaum verbergen, als er mir den Korb überreichte. "Ich hab' gesehen, wie ihn jemand vor ein paar Tagen entsorgt hat", sagte Jannik, "und jetzt ist er für dich!" – "Ah, das ist ja einfach wundervoll!", staunte ich, "er ist für die Lenkstange, gerade so, als wäre er für mich gemacht." Dieses Geschenk löste mein Problem. Jannik half mir, mein Fahrrad wieder aufzurichten, alle Beutel zurechtzurücken, den Korb zu befestigen. Während ich das Rad im Gleichgewicht hielt, setzte Jannik am Ende die Kartoffeln in den Korb. "Dich hat der Himmel geschickt", bedankte ich mich, "was hätte ich nur gemacht ohne dich?" Und im gleichen Augenblick fiel mir etwas ein: "Jannik", sagte ich, "weißt du, was du heute getan hast?" – "Ja, weiß ich", antwortete er mit einem verlegenen Lächeln, "ich habe dir aus der Patsche geholfen." – "Nein, es ist noch viel besser." Jannik konnte nicht erraten, worauf ich hinaus wollte. "Nun sag' schon", drängelte er, "mach's doch nicht so spannend." – "Lieber Jannik", sagte ich feierlich, "in wenigen Tagen ist Weihnachten. Du hast mir heute etwas zu Weihnachten geschenkt und mir damit eine große Freude gemacht. Ich danke dir sehr!" Dieses kleine Erlebnis am Rande der Festtagshektik ließ uns beiden das Herz aufgehen. "Fröhliche Weihnachten!", rief Jannik hinter mir her, als ich mich langsam und schlingernd auf den Heimweg machte, "viel Spaß mit deinem Geschenk!"
Druckversion
ImpressumHaftungsausschluss